Auszug aus dem Roman „V oder die Vierte Wand“

Die Tankstelle erinnert mich, immer wenn ich mich ihr nähere, an amerikanische Roadmovies aus den 1950ern. Diese fahle, glasverkleidete Lichtinsel mitten im Nirgendwo.
Yngvi steht hinter der Theke, schaufelt Käsepopcorn in sich rein und streamt irgendwelche Pornos. Als er mich sieht, wischt er den Schirm blank.
Du hier?, ruft er mir entgegen, und seine Stimme bricht am Ende. Er ist seit ungefähr zehn Jahren in der Pubertät, und es macht nicht den Anschein, als würde er jemals aus ihr rauskommen.
Vielleicht sollte man die Tankstelle tatsächlich dicht machen, denke ich auf dem Weg durch die Regalreihen, auf denen Chips, Popcorn und Schokoriegel unter sterilem Leichenhallenlicht vor sich hin stauben. Eine Maschine zum Aufladen, eine für Cola und eine für Hotdogs. Deren gesammelte Kapazität würde die Hirnleistung meines Bruders bei weitem übersteigen.
Genau als ich dies denke, kommen ein paar Kids aus Skógar rein.
Ich drücke mich an Yngvis Rücken vorbei und lege das T-Shirt-Bündel auf die Heizung hinter der Theke. Yngvi bemerkt nichts. Er ist damit beschäftigt, die Kids mit Blicken zu töten. Es sind vier Jungs im unbestimmbaren Alter zwischen sechzehn und zwanzig. Sie tun dasselbe wie immer. Streifen durch die Reihen, ziehen laut die Nase hoch, verteilen Schneematsch auf dem Boden und machen die Kühlschranktüren auf und zu, ohne irgendwas rauszunehmen. Ich starre sie an und ertappe mich bei der Frage, ob einer von diesen kiffenden Losern ebenfalls Nachrichten von Dayo bekommt.
Yngvi neben mir mahlt mit den Zähnen.
Wollt ihr tanken?, fragt er, ein warnendes Bellen, diesmal ohne Kiekser am Ende.
Einer der Jungs schlendert gemächlich näher und schüttelt in Zeitlupe den Kopf. Seine Daunenjacke, die ihn doppelt so breit erscheinen lässt, wie er tatsächlich ist, knistert und schabt bei jeder Bewegung.
Natürlich nicht, antworte ich an seiner Stelle, und meine Stimme sinkt von Wort zu Wort tiefer. Den Jeep tankt schließlich Papi voll, bevor ihr damit auf Tour geht. Ich sehe ihm in die Augen. Oder nicht?
Der Dorfdepp von Skógar schweigt und grinst.
Cruisen war schon als Sólrún jung war die Lieblings-Freizeitbeschäftigung von gelangweilten Minderjährigen. Bevor sie die Bars der Hauptstadt betreten durften, fuhren sie die immergleichen drei Straßen ihrer Heimatorte im Kreis und protzten mit ihren neuen Schlitten.
Jetzt quetschen sie sich zu viert oder fünft in die alten Jeeps ihrer Eltern. Benehmen sich aber noch immer wie kleine Könige auf Koks.
Früher gab’s überall Gratis-Kaffee, mault der mit der Daunenjacke. Ein zweiter, mit schlenkrigem Gang und grenzdebilem Gesichtsausdruck, fällt mit mädchenhaftem Singsang ein: Ja stimmt! Was ist mit dem Gratis-Kaffee passiert?
Yngvi platzt der Kragen. Den gibt’s nicht mehr, faucht er, seit ihr hier alle paar Stunden reinkommt, um euch aufzuwärmen und aufzuputschen! Glaubst ihr, wir schauen zu, wie ihr alles angrapscht und die Chips durch die Tüte durch zerkrümelt, aber nie irgendwas kauft, nur den Kaffee leer trinkt?
Daunenjackes Mundwinkel zucken verächtlich. Wortlos winkt er seinem Gefolge. Bevor er geht, fällt seine Hand schwer auf den Kartenscanner. Er schürzt die Lippen und beugt sich vor, bis ich seinen Schwefelatem riechen kann. Ich komm wieder, wenn dein bèndàn Bruder weg ist.
Bevor ich ihm eine langen kann, ist er zurückgewichen, und eine Sekunde später mit seinen Kumpels durch die Tür.
Ich könnte deine Mutter sein!, schreie ich Daunenjacke hinterher, was natürlich völlig übertrieben ist, ihm aber wenigstens eine Idee von der Abwegigkeit seiner Gedanken geben sollte. Draußen lacht der Schwachsinnige hoch und gackernd.
Zwei kleine runde Scheinwerfer reißen die Lider hoch. Dann wendet der Jeep und lässt nur Dunkelheit zurück.
Kaffee! Yngvi würgt das Wort heraus wie einen versehentlich verschluckten Pflaumenkern.
Kaffee. Das erinnert mich an was. Die Fußsohlen fest mit dem Boden verankert, erzähle ich Yngvi in kurzen, knappen Sätzen und sehr beherrscht von meinem Malheur. Hallgerður lasse ich aus dem Spiel.
Er hört mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Als ich fertig bin, hält er mir sein Wristpad unter die Nase /(k-pax)/3_3_11///dial/w/w/w … unter meinen Fußsohlen verselbstständigt sich eine Feder; ich spüre sie aufspringen, mich in die Luft gehen, schreie: Spinnst du? und dann, geistesgegenwärtig: Stopp!
Der Wählton bricht ab.
Warum ausgerechnet Kjartan, sage ich, die Worte flach wie eingelegte Robbenflossen. Yngvi zuckt mit den Achseln. Der macht’s dir umsonst. Er glotzt den abgepackten Trockenfisch an, braucht eine Weile, um seinen eigenen Witz zu kapieren, und krümmt sich erst nach einer guten Minute, ganz plötzlich, als hätte er einen Schlag in den Magen erhalten, um sein eseliges Fünfklässlerlachen.
Ich hole nach ihm aus.
Yngvi kennt mich gut genug, um rechtzeitig auszuweichen. Hast du heute deine Tabletten schon genommen?, kiekst er und taumelt rückwärts.
Ich springe um die Theke und kriege ihn zu fassen. Er ist stärker als ich. Er hält meine Arme fest. Ich versuche, ihn mit meinem Gewicht zu Boden zu werfen. Er keucht; ich ramme ihm den Hacken in die Kniekehle, und er fällt seitwärts in den Trockenfisch, reißt im Fallen das Regal um. Jetzt ist er es, der mich mit sich zu Boden zieht. Etwas in meiner rechten Schulter knackt. Meine Schläfe trifft auf knisterndes Plastik. Yngvi gibt auf. Eine Weile bleiben wir so liegen. Die Fliesen sind kalt. Um uns herum liegt krümeliger Schellfisch und getrockneter Seewolf, in mundgerechten Streifen verpackt.
Yngvi rappelt sich als erster hoch. Er sitzt da, mit hängendem Kopf, die Ellbogen auf den Knien, wie früher, wenn wir in hellen Sommernächten irgendwo am Rand von Reykjavík auf den Bus warteten.
Was tut Katla, wenn der Quark zur Neige geht?, fragt er seine Sneaker.
Das alte Spiel. Immer wenn er mich aufmuntern wollte, hat er mir diese Frage gestellt. In genau diesem Wortlaut. Man darf den Klang von Märchen nicht verändern, da sind wir beide streng.
Mir wird von innen heraus warm. Wie nicht mal nach der intensivsten Muskelrelaxation. Es ist längst nicht mehr das Spiel an sich, es ist die Erinnerung an beheizte Holzdielen, blaue Flecken und karamellverklebte Zähne – sagen wir mal: so was wie Kindheit – die das macht. Yngvi fragt: Was tut Katla, wenn der Quark zur Neige geht? Oder, das ist auch OK: Was passiert, wenn am Ende des Winters die Molke ausgetrunken ist?
Und ich sage: Katla zieht die Wunderhosen an.
Und dann?
Sie rennt und rennt, bis sie nicht mehr weiter kann. Wer Katlas Wunderhosen trägt, kann nämlich so schnell laufen, wie er will, und wird niemals müde.
Darauf Yngvi: Ich suche und suche, und sie ist nicht mehr zu sehen.
Ich: Weil sie im Berg verschwunden ist.
Hilfe!
An dieser Stelle rudert Yngvi mit den Armen und ringt nach Luft. Denn sobald Katla im Berg sitzt, lässt sie Wassermassen unter dem Eis hervorbrechen, die ins Tal stürzen und Häuser, Menschen und Tiere mitreißen. Manchmal gibt Yngvi an dieser Stelle auf und bleibt liegen wie tot. Meist aber wacht er nach ein paar Minuten wieder auf. Der gruselige Teil kommt nämlich noch. Seit wir sprechen können, ziehen wir das morbide Mittelstück der Sage ans Ende.
Yngvi fragt: Und was ist an des Fasses Boden?
Ein toter Mann.
Wer ist denn dieser Junge mit dem grünen Gesicht?
Es ist Barði.
Welcher Barði?
Barði, der Hirte!
Warum hat Katla den Hirten ertränkt?
Er lieh sich ihre Wunderhosen, um seine Schafe in den Bergen zusammenzutreiben!
Yngvi, eben noch Opfer des Gletscherlaufs, verwandelt sich in die Leiche am Grund der Skyr-Tonne, rauft sich die Haare, wälzt sich umher und schneidet fürchterliche Grimassen. So haben wir uns als Kinder vorgestellt, muss es sein, wenn mit den letzten Schlucken Skyr der Tod zum Vorschein kommt.
Monatelang wollte ich keine Súrmjólk über meine Cornflakes. Allein der Geruch brachte Bilder von aufgedunsenen Leichen mit sich. Egal wie komisch Sólrún geguckt hat, ich aß das Zeug lieber trocken.
Heute spielt Yngvi kein Theater. Er raunt lediglich mit alberner Geisterstimme ins Innere der Popcorntüte: Bald taucht Barði auf … Was umgangssprachlich so viel heißt wie: Bald kommt die Wahrheit ans Licht.
Ich richte mich auf, Schellfisch im Schoß. Die wohlige Wärme wird zu Hitze. Schweiß verklebt meine Kopfhaut. Als hätte ich in der Ferne Polizeisirenen gehört, dieses Geräusch, das jeden, egal wie unschuldig, augenblicklich zum Verbrecher macht. Irgendwas ist passiert zwischen heute und – ich weiß nicht wann. Ich weiß auch nicht, was. Nur dies: Früher hielt ich Katla für eine verwandte Seele. Heute denke ich: Mörderin.
Mörderin. Mörderin …